Angehört haben wir uns die Linie 54 natürlich auch, zum reinen Ansehen war sie eher zu häßlich. Das half uns dabei, die Augen beim Musikgenuss zu verschließen und nur die von jeder störenden Umgebung losgelösten Töne wirken zu lassen. Zwar steht weiter oben, dass die Abhöre-Nachfolger ihre Vorzüge bei Musik haben, die Druck mag, dennoch begann ich die Hörprobe mit Patricia Barber’s “Summertime”, live in einem Lokal eingespielt, was das leise, teils verständliche Gebrabbel weit hinter den Lautsprechern verrät. Als die Sängerin nur von äußerst sparsamem Oberbass begleitet, ihren Song beginnt, sind die leisen Stimmen immer noch nicht verstummt. Hört man dem Vortrag überhaupt zu? Nach ein paar Takten wird es hinten ruhiger, erstaunlich bleibt, dass niemand das großartig vorgetragene Gershwin-Stück kennt, nicht eine Hand klatscht. Die Kellner sammelt unbeirrt Gläser ein und stellen sie noch ein gutes Stück hinter dem Publikum auf einen Tresen. Die Augen geschlossen sitzt man mir nichts, dir nicht in Chicago, wo sich Patricia Barber häufig einfach mal so in einem Jazzkeller ans Klavier setzt und das Publikum unterhält. Hab ich das Stück nie so genau angehört oder sind es diese Boxen, die laute und leise Töne so selbstverständlich vermitteln wie mittendrin dabei? Schnell mal zur Kontrolle Duetta angeschlossen, ah, die kann es auch, aber etwas anders. Der MTM-Aufbau der kleineren Mitteltöner stellt das Nebenher noch etwas weiter nach hinten, dafür haben Stimme und Instrumente bei Duetta minimal mehr Körper. Also gleiches Niveau, nur andere Akzente. Ähnliches lässt sich auch über Toccata und Fuge von Bach schreiben, hier tieferes Kirchenschiff, dort tiefere Töne aus größeren Pfeifen, also eher Geschmacksache als gut gegen besser. Ganz nebenbei: Hab ich schon mal geschrieben, dass der ER 4 ein ganz außergewöhnlicher Hochtöner ist, den wirklich nichts aus der Ruhe bringt?
Wie war das noch mit dem druckvollen Rock? Bob Dylan als frisch gebackener Literatur-Nobelpreisträger fällt dafür wohl leider aus. Aber was ist mit Deep Purple? Child in Time, die Studioaufnahme von Deep Purple in Rock, lag schnell auf dem Plattenteller und halb zehn abends oder nicht, der Nachbar mag es auch! Ja, so muss es sein, dynamisch, mitreißend, mit wilder Temposteigerung. Stillsitzen, schreiben? Unmöglich! Noch einen Tack mehr Pegel, der Kopf wackelt, die Füße tanzen, der Nachbar klopft hoflich, bevor er leise herein kommt. Zusammen hören wir noch die eine und andere schwarze Scheibe aus unserer guten, alten Zeit und sind uns einig: Schade für alle, die mit Tim Benzko oder Andreas Bourani groß werden müssen. Jim Morrison und die Doors waren da ein ganz anderes Kaliber.
Udo Wohlgemuth